Sonder-Newsletter 1/2022 vom 16. März 2022

Menschen mit Demenz und Ukraine-Krieg

Oma aufgeregt lauschend: "Hast Du gehört? Sie kommen!" – "Oma, was meinst Du – wer kommt?" – "Die Männer kommen!" – "Oma, was meinst Du, welche Männer?" – "Na, die Männer!“"

"Und jetzt ist also wieder Krieg. Ich habe solche Angst. Und ich verstehe das doch alles nicht mehr. Ich bin doch alt. Manchmal frage ich meinen Vater, was er denn jetzt machen würde… Der wüsste jetzt wenigstens, was man da machen kann, wenn die Russen kommen."

Oma steht an der Wohnungstür und versucht, das Schloss zu ‚überlisten‘: "Ich muss mir dringend ein paar Möglichkeiten ausdenken, womit ich diese Türe aufbrechen kann, wenn sie kommen. Damit man dann wenigstens in den Keller runter kann!"

In den letzten Tagen berichten Anrufer*innen an unserem Beratungstelefon vermehrt von Auffälligkeiten und akuten Veränderungen bei ihren an Demenz erkrankten Angehörigen: Unruhe, Umherwandern, Sachen packen und persönliche Papiere richten. Unsicheres, aber auch aggressives Verhalten sowie unspezifische Ängste oder ängstliches Verhalten.

Seit gut zwei Wochen erleben wir eine Situation, die sich vor kurzem noch kaum jemand je hätte vorstellen können: Mitten in Europa findet ein brutaler Angriffskrieg statt, der uns fassungs- und hilflos macht. Der Sorgen und Angst macht. Menschen mit Demenz sind davon nicht ausgenommen. Doch während Menschen ohne Demenz die Lage zumindest einigermaßen einordnen können, sind Menschen mit einer Demenz den momentanen Eindrücken, die auf sie einströmen, meist schutzlos ausgeliefert.

Folgende Informationen und Tipps können helfen, besser mit der Situation umzugehen:

Krieg, Trauma und Demenz
Viele Menschen mit Demenz haben selber noch die Zeit des 2. Weltkriegs erlebt. Fast in jeder Familie gab es Tote, Verwundete und Vermisste unter den Angehörigen, Kriegsgefangenschaft, Flucht, Bombardierung, Vergewaltigung, Hunger. Das hat oftmals tiefe seelische Wunden hinterlassen, die aber in den seltensten Fällen thematisiert oder gar geheilt, sondern in aller Regel verdrängt wurden. Gerade im Alter und insbesondere bei Demenz reicht dann oft ein vermeintlich kleiner Auslöser wie ein Geräusch, Dunkelheit, Enge oder ein Bild, um verschüttete Gefühle wieder aufleben zu lassen und Reaktionen wie Unruhe, Angst, Panik oder Wut hervorzurufen. Doch während ältere Menschen ohne kognitive Einschränkung das Geschehen besser einordnen können ("Der 2. Weltkrieg ist vorbei"; "Der Krieg findet in der Ukraine statt, nicht in Deutschland"), erleben Menschen mit Demenz – ausgelöst z.B. durch Bilder – die Situation  unmittelbar und aktuell bedrohlich, weil sie an die Schrecken von damals erinnert.     

Die Medien fluten uns nun geradezu mit Informationen, Berichten und Bildern zum Ukraine-Krieg. Ob die Tageszeitung auf dem Küchentisch mit der Schlagzeile „Krieg in Europa“ titelt oder das Fernsehen auf allen Kanälen rund um die Uhr Menschen auf der Flucht, Panzer und brennende und zerbombte Städte zeigt: Es ist fast unmöglich, sich dem zu entziehen. Das gilt auch für Menschen mit Demenz.

So können Angehörige, Betreuungs- und Pflegekräfte reagieren

  • Beobachten Sie Veränderungen im Verhalten genau. Verhaltensweisen wie Angst, Unruhe, Panik oder Wut können ihre Ursache in einer Retraumatisierung haben, ausgelöst durch die Berichterstattung über den Ukraine-Krieg. Beziehen Sie diese Verhaltensweisen nicht auf sich, sondern zeigen Sie Verständnis für die Not des Gegenübers.
  • Das Geschehen rational zu erklären und/oder zu verharmlosen ("Die Ukraine ist weit weg, uns betrifft das nicht"), hilft in aller Regel nicht. Durch die kognitiven Einschränkungen können Menschen mit Demenz das nicht begreifen, Bilder und wieder aufflammende Gefühle sind in dem Moment prägender.
  • Aber: Wenn der Mensch mit Demenz von sich aus das Thema anspricht, die Sorgen und Ängste äußert, dann zeigen Sie, dass Sie das ernst nehmen. Zeigen Sie, dass auch Ihnen das Thema Sorgen bereitet, aber vermitteln Sie gleichzeitig auch ein Gefühl von Sicherheit ("Wir sind in Deutschland in Sicherheit“, „Du bist nicht alleine"), Geborgenheit und Schutz.
  • Versuchen Sie, Trost zu geben. z.B. durch eine Berührung, eine Umarmung, ein Lied, ein gutes Essen oder Getränk, ein vertrautes Ritual.
  • Lenken Sie ab, z.B. mit schönen und positiven Eindrücken. Gerade jetzt im Frühjahr könnte das etwa ein Spaziergang in der schon wärmenden Sonne durch die erwachende Natur sein.
  • Vermeiden Sie alles, was Menschen mit Demenz auf den Ukraine-Krieg aufmerksam machen könnte. Lassen Sie die Zeitung nicht offen herumliegen, wählen Sie das Radio- und Fernsehprogramm sehr sorgfältig aus. Generell sollten ja Radio und Fernsehen sowohl im privaten Umfeld wie auch in den stationären Einrichtungen nur gezielt eingeschaltet werden und nicht dauerhaft laufen.

Haben Sie weitere Fragen oder suchen Sie Unterstützung?
Rufen Sie uns an oder schreiben Sie uns eine Mail. Die erfahrenen Fachkräfte unseres Beratungsteams helfen Ihnen gerne weiter.

Telefon: 0711 24 84 96-63

Mail: beratungalzheimer-bwde

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